Angst

Anlass für diesen Text war ein Urlaubsausflug nach Nizza. Dort wo das Meer in einem tiefen hellen Blau leuchtet, wenn man einige Meter unter Wasser die Augen öffnet. Das Licht vereinnahmt aus allen Richtungen gleichermaßen. Erst der Zwang zu atmen erschließt einen Ausweg aus diesem Universum. Ein tolles Gefühl.

Ich wusste nicht, dass einen Steinwurf oberhalb, auf der Uferpromenade vieldutzendfacher Mord geschehen war. Das wurde mir erst klar, als wir die Treppe vom Strand nach oben stiegen und die vielen Blumen sahen, die dort den Boden bedeckten. Natürlich wusste ich, dass ein paar Wochen zuvor in dieser Stadt eine Katastrophe ihren Lauf genommen hatte. Zuvor hatte ich in einem nahegelegenen Park auch eine Gedenkstätte gefunden und einen Augenblick lang tiefe Traurigkeit verspürt. Und jetzt stand ich genau hier, nur zufällig zur richtigen Zeit.

Es hätte auch mich treffen können, zum Beispiel kurz vor unserem Urlaub an der Riviera, in Ansbach, da wo ich lebe. Vor dem Festivalgelände in der Innenstadt, wo ein Attentäter, wie durch ein Wunder nur sich selbst ermordete. Ein verzweifelter, zerbrochener junger Kriegsflüchtling, mit Ideologie und Hass aufgeladen und in einen heiligen Krieg geschickt. Ständig heulten alle möglichen Sirenen. Angst verspürte ich keine, als ich auf der Straße nach Antwort suchte, für die vielen Krankenwagen, Feuerwehren, Polizeiautos und ziellos am Himmel dahinkreisende Hubschrauber. Es soll eine Bombe gewesen sein, meinte ein fremdländisch anmutender Jugendlicher. Nein, Angst hatte ich keine, aber froh war ich schon, dass meine Familie zuhause war. Ich selbst ging da noch von einem Großbrand aus, wegen der vielen Feuerwehrautos. Ein paar Tage zuvor hatte es einen völlig sinnlosen Amoklauf mit vielen Toten in einem Münchner Einkaufszentrum gegeben. Und wieder nur wenige Tage zuvor hatte ein allein operierender jugendlicher Asylbewerber Reisende in einem Zug mit einer Axt malträtiert. In einem Regionalzug, der ebenfalls  Ansbach durchfahren hatte. Nein, Angst hatte ich keine, aber es fühlte sich schlecht an.

Ernsthaft besorgt um meine Familie war ich letztes Jahr. Eine Arbeitskollegin erfuhr es via Internet als erstes: Ein Amokläufer zog durch unseren Landkreis und schoss wahllos auf Leute. Zwei Tote hatte es bereits gegeben. Die Kinder hatten bald Schulschluss und ich wollte sie warnen. Die Schulleitung hatte zum Glück reagiert und die Kinder zurückgehalten. Der schizophrene Täter wurde nach seiner Irrfahrt in einer Nachbarstadt überwältigt.

Emotional weniger berührt war ich, als vor ein paar Jahren ein etwa zwei Steinwürfe entfernt wohnender Schüler in einem Ansbacher Gymnasium mit Axt und Messer Amok lief. Der Wahnsinn wurde durch die Polizei zu Ende gebracht, bevor es Tote gab. Es war niemand betroffen, den ich persönlich kannte.

Gar keine Angst hatte ich, als ich Hamburg Harburg wohnte, zeitgleich mit Mohamed Atta. Noch wusste niemand, dass er sein gekapertes Flugzeug in einen der Türme des World Trade Center in New York bohren würde. Diese spezielle Sorte Angst, die man empfinden kann, wenn eine abstrakte Terrorgefahr in der Luft liegt, war ja seit der Auflösung der Roten Armee Fraktion in Deutschland nicht vorhanden. Und allen, die den Zeitgeschmack des kalten Krieges nicht mehr kannten, war sie gar völlig unbekannt. Erschrocken und irritiert war ich, damals am 9.11.2001, kurz vor der Geburt unseres ersten Kindes, als Textfetzen aus dem Radio ein immer unglaublicher werdendes Bild zeichneten. Meine erste Information war, dass das Pentagon teilweise zerstört sei und russische Militärflugzeuge gestartet seien. Schatten aus der Vergangenheit tauchten kurz auf und wurden abgelöst vom Archetypus des modernen Terrors. Ziemlich schnell und ziemlich klar erkannte ich damals eine Antwort auf eine Furcht, die sich schon lange dumpf und nur am Rande der Wahrnehmung ausbreitete. Eine Furcht, die sich manchmal in biergeschwängerten nächtlichen Diskussionen Bahn brach, als Antwort auf eine Schere im Kopf, die immer weiter auseinander ging.

Angst hatte ich auch damals nicht, so um das Jahr 1994 herum, als mitten im Zentrum des Städtchens Ansbach ein kleiner Jugendlicher einen noch kleineren am Schlafittchen gepackt hielt und ihn fortwährend mit Kopf und Rücken an eine Hauswand schlug. Eine Gruppe Gleichaltriger stand untätig und in respektvoller Entfernung im Halbkreis um das Geschehen herum und konsumierte den Live-Stream.

Angst hatte ich eine halbe Stunde zuvor gehabt, als ein athletischer und offen aggressiver Jugendlicher in Manier einer fernöstlichen Kampfsportart auf mich und zwei weitere Begleiter zusprang und mit dem Fuß in Richtung meines Kopfes und Oberkörpers kickte. Ich trug eine Tasche bei mir und konnte den heranschnellenden Fuß damit abwehren. Daraufhin ließ er von mir ab und trat auf meine zwei Begleiter ein und eilte schließlich davon. Ich hatte mich hilflos und ausgeliefert gefühlt. Ich wollte auch nicht, dass sich so etwas wiederholte, spielte daher gedanklich Szenarien durch, um ein solches Ausgeliefertsein zu unterbinden. Ich brütete gerade über einem Plan, den potentiellen Gegner zu verwirren, so dass er ablassen würde, als ich die beiden erblickte. Also trat ich heran, stellte meine Tasche ab und tippte den Aggressor an die Schulter. „Grüß Gott, hätten Sie die Güte, den jungen Mann in Frieden zu lassen?“ Er starrte mich verständnislos an. Der andere Junge riss sich los, rannte davon und verschwand sofort. Ich nahm wieder meine Tasche in die Hand und wollte gerade gehen, da erschütterte ein lauter Knall die nachmittägliche Stille des verschlafenen Städtchens. Ich verspürte einen Schlag auf meinem Oberschenkel. Schneller als ich denken konnte, kam ich zu dem Ergebnis, dass ein gegen mein Bein geworfener Silvesterkracher explodiert sein musste. Ich stand noch immer unter der Vorgabe, die Situation durch allgemeine Verwirrung zu entschärfen, ignorierte also den kleiner Schläger und wendete mich an die Gaffer: „Ihr verschwindet jetzt alle, denn in spätestens fünf Minuten sind die Bullen da“, und ging meines Weges.  Zwei Straßen weiter fing mich das Opfer ab und bedankte sich überschwänglich dafür, dass ich ihn gerettet habe. Er meinte, dass ich so was von cool reagiert hätte, als der andere auf mich geschossen hatte. Ich erschrak. Das hatte ich so weder mitbekommen, noch mir vorstellen können. Ich gehe heute davon aus, dass es sich um eine Schreckschusspistole gehandelt hat. Mit der Angst bekam ich es nicht zu tun, weil die Situation ja schon vorbei war.

Ebenfalls zu spät für ein Angstgefühl war es, als ich erfuhr, dass ein Amokfahrer in die dahinmarschierende Kompanie raste, in der ich kurz zuvor noch meine militärische Grundausbildung absolvierte. Ich erinnere mich an eine persönlich sinnlose Zeit zu Ende des kalten Krieges. Meine Erinnerungen sind hier nicht mehr ganz klar. Der Fahrer war stark alkoholisiert und es gab wohl zwei Tote und etliche Verletzte.

Auch als in Berlin, mitten in den Neunzigern, mitten auf der Straße, zuerst ein schmächtiger Mann an mir vorbei sprintete und dann ein junger Mann mit irrem Blick und einer hochgehaltenen Pistole in der Hand auf mich zukam und fragte, wo hier der Typ sei, den er umbringen wolle, da verspürte ich keine Angst. Das war zu absurd, das empfand ich in seiner aufgedunsenen Emotionalität schon fast als komisch.

Das Ende von Angst I

Der moderne Terror und der beim Zerbrechen Tod und Vernichtung freisetzende Mensch ist mir nicht fremd. Ich war selbst einmal ein junger Mann, verletzt, frustriert und in einer starren Weltsicht verfangen. Und normalerweise entlässt das Leben einen Menschen aus dieser Blase als Erwachsenen.

Das Ende von Angst II

Tatsächlich lebe ich in Frieden. Keine nächtlichen Bombenangriffe, keine Vertreibung, keine Leichen am Wegesrand. Das war die Realität meiner Eltern, als sie Kinder waren. Ich habe keine Angst, wiewohl ich fürchte, dass der Zustand nicht auf Dauer ist. Und ich weiß, dass für viele Menschen auf dieser Welt und mancherorts sogar in Deutschland, meine Befürchtung bereits Alltag ist. Ich sorge mich vielmehr darum, dass bei einer global auseinander klaffenden Schere im Wohlstandsgefälle und in den Chancen, die einem das Leben bereithält, der Zustand der Welt an Stabilität verliert und Kräfte auf den Plan ruft, das auch umzusetzen. Und das macht mir sogar ein bisschen Angst.